EncroChat – Verteidigungsstrategie für Strafverteidiger

EncroChat & SkyECC vor dem BGH – Die Zukunft der digitalen Strafverteidigung

I. Einleitung: Digitale Kommunikation als Fundament moderner Strafverfolgung

EncroChat – Die strafrechtliche Aufarbeitung digitaler Kommunikation hat sich binnen weniger Jahre zum entscheidenden Schlachtfeld der modernen Strafverfolgung entwickelt. Was noch vor einem Jahrzehnt als Randphänomen von Cyberkriminalität galt, ist mittlerweile ein struktureller Kernbereich fast jeder ernsthaften Ermittlung – sei es im Betäubungsmittelstrafrecht, bei Vermögensdelikten oder in Bereichen organisierter Kriminalität.

Besonders deutlich zeigt sich diese Entwicklung in der zunehmenden Bedeutung von verschlüsselten Kommunikationsdiensten wie EncroChat und SkyECC. Dabei handelt es sich nicht um gewöhnliche Messenger-Apps, sondern um speziell präparierte Kommunikationssysteme, die auf Manipulationssicherheit, Anonymität und automatische Datenlöschung ausgelegt sind. Die Geräte wurden systematisch von Akteuren der organisierten Kriminalität genutzt – insbesondere von Drogenkartellen – um großvolumige Handelsgeschäfte, logistische Abläufe und Geldwäsche zu koordinieren, ohne in den Fokus der klassischen Telekommunikationsüberwachung zu geraten.

Diese abgeschottete Parallelwelt wurde im Jahr 2020 durch eine spektakuläre Ermittlungsmaßnahme der französischen Polizei erschüttert: In einem verdeckten Zugriff gelang es, die Serverstruktur von EncroChat zu kompromittieren und über Monate hinweg millionenfache Chatnachrichten auszuleiten. Diese Daten gelangten sodann – teils über Europäische Ermittlungsanordnungen (EEA), teils über internationale Polizeikooperationen wie Europol – an nationale Strafverfolgungsbehörden, unter anderem an das Bundeskriminalamt (BKA) in Deutschland.

Damit stand eine völlig neue Kategorie von Beweismitteln zur Verfügung: kryptografisch gesicherte Kommunikation, die direkt aus den Geräten der Tatverdächtigen stammte, ohne dass deren Nutzer dies bemerkten. Was Ermittler als kriminalistisch ergiebige Goldgrube bejubelten, stellt für Verteidiger eine zentrale rechtsstaatliche Herausforderung dar: Darf der Staat im deutschen Strafverfahren Daten verwerten, die er aus ausländischen Quellen erhalten hat, deren Erhebung er weder kontrollierte noch rechtlich nachvollziehen kann?

Diese Frage berührt den Kern des rechtsstaatlichen Strafverfahrens: das Spannungsverhältnis zwischen effektiver Strafverfolgung und dem Schutz der Grundrechte des Beschuldigten – insbesondere des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, auf ein faires Verfahren und auf gerichtliche Kontrolle jedes Eingriffs. In dieser Gemengelage kommt der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) eine Schlüsselfunktion zu: Sie entscheidet, ob der Rechtsstaat an dieser neuen digitalen Front eine Grenze zieht – oder ob Ermittlungsinteresse, Effizienz und grenzüberschreitende Kooperationen auch in Deutschland die rechtlichen Maßstäbe verschieben.

In dieser Analyse werfen wir einen systematischen Blick auf die maßgeblichen BGH‑Entscheidungen zu EncroChat und SkyECC, analysieren die dogmatischen Grundlagen der Beweisverwertbarkeit und entwickeln daraus eine fundierte Verteidigungsstrategie für Strafverteidiger. Ziel ist es, Mandantenorientierung mit juristischer Präzision zu verbinden – und den Verteidiger als verfassungsrechtlichen Kontrollakteur in einer digitalisierten Verfahrensrealität zu positionieren.

II. EncroChat BGH Sachverhalt: Sechs Tonnen Kokain, verschlüsselte Chats und ein Präzedenzfall der Digitalbeweisführung

Im Zentrum der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zu EncroChat und SkyECC steht ein aufsehenerregendes Verfahren aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität. Konkret ging es um die systematische Einfuhr und den Vertrieb mehrerer Tonnen Kokain, das über den Hamburger Hafen ins Bundesgebiet gelangte. Die Organisation der Tatbeiträge, die Koordination der Logistik, die Preisabsprachen und sogar die Reaktionen auf mögliche Fahndungsmaßnahmen wurden nahezu vollständig über verschlüsselte Kommunikationsdienste wie EncroChat und SkyECC abgewickelt.

Nach den Feststellungen der Vorinstanz – hier: Landgericht Hamburg – hatte die Tätergruppe im Zeitraum von etwa 18 Monaten mindestens zehn Einfuhrvorgänge realisiert. Pro Lieferung wurden zwischen 200 kg und 1,8 t Kokain eingeführt, verpackt in Seecontainern, verschlüsselt angekündigt über EncroChat-Kommunikation und verteilt über ein eigenes Netz von Zwischenhändlern. Die Gesamtmenge summierte sich auf etwa 6 Tonnen Kokain, ein Volumen, das im Bereich des internationalen Drogenhandels nur mit organisierter, transnationaler Infrastruktur realisierbar ist.

Die entscheidende Rolle der EncroChat-Daten bestand darin, dass sie ein lückenloses digitales Protokoll der Tathandlungen enthielten. Auszüge der Kommunikation dokumentierten nicht nur Verkaufsabsprachen, sondern auch Preisverhandlungen, Anweisungen zur Verpackung, Hinweise zu polizeilichen Maßnahmen und – besonders belastend – Lichtbilder der Drogenpakete, versehen mit Mengen- und Herkunftsangaben. Die deutschen Ermittlungsbehörden hatten diese Daten im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit mit der französischen Justiz erhalten. Diese hatte – nach eigenen Angaben – im Rahmen eines verdeckten Zugriffs auf den Server von EncroChat eine Remote-Überwachungssoftware („implant“) installiert, die sämtliche Nachrichten, Bilder und Systemdaten von EncroChat-Geräten in Echtzeit an eine Kontrollinstanz übermittelte.

Diese Daten wurden vom Bundeskriminalamt im Rahmen einer Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA) angefordert und anschließend deutschen Ermittlungsakten beigezogen. Sie bildeten die maßgebliche Beweisgrundlage für die Anklage und letztlich für die Verurteilung der Beteiligten.

In der Revision vor dem BGH – konkret im Verfahren 5 StR 457/21 – machten die Verteidiger geltend, dass diese Beweismittel nicht verwertbar seien. Die Argumentation stützte sich auf mehrere Einwände:

  1. Die Erhebung der Daten sei rechtsstaatswidrig gewesen, da der Einsatz des Spähprogramms ohne richterliche Anordnung und ohne Verdacht gegen die konkreten Beschuldigten erfolgt sei.

  2. Die Rechtsgrundlage der Übermittlung – insbesondere im Hinblick auf die EEA – sei nicht transparent und in Teilen lückenhaft dokumentiert.

  3. Die Verteidigung rügte zudem die fehlende Möglichkeit zur Überprüfung der Originaldaten, da diese vollständig in französischer Hand verblieben seien und nur extrahierte, gefilterte Teilmengen übermittelt wurden.

Dennoch verwarf der BGH die Revision weitgehend und bestätigte die Schuldsprüche wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 30a Abs. 1 BtMG. In seiner Entscheidung legte er grundlegend dar, dass – trotz der internationalen Komponente, trotz der fehlenden richterlichen Überwachung auf deutscher Seite und trotz der datenschutzrechtlichen Bedenken – die gewonnenen Beweismittel im Strafverfahren verwertbar seien.

Diese Entscheidung ist nicht nur für das betroffene Verfahren von zentraler Bedeutung, sondern hat Präzedenzcharakter für sämtliche Strafverfahren, in denen Kommunikationsdaten aus grenzüberschreitenden Quellen, insbesondere aus dem EncroChat- oder SkyECC-Komplex, eine tragende Rolle spielen. Für Strafverteidiger bedeutet dies: Wer die Verwertbarkeit solcher Daten angreift, muss nicht nur verfahrensrechtlich präzise vorgehen, sondern auch verfassungsrechtlich fundiert argumentieren – gegen eine gefestigte Linie der höchstrichterlichen Rechtsprechung.

EncroChat BGH Cannabis

III. EncroChat – Dogmatische Einordnung: Beweisverwertungsverbot, Widerspruchslösung und die Rolle des Verhältnismäßigkeitsprinzips

Die rechtliche Bewertung der EncroChat- und SkyECC-Daten im deutschen Strafverfahren hängt wesentlich von der dogmatischen Einordnung ihrer Herkunft und Verwendung ab. Zentral ist dabei die Frage: Unter welchen Voraussetzungen dürfen Beweismittel, die durch ausländische Behörden ohne deutsche gerichtliche Kontrolle erhoben wurden, im inländischen Strafverfahren verwertet werden?

Die Strafprozessordnung selbst enthält keine allgemeine Norm zur Beweisverwertung. Der Maßstab ergibt sich aus dem Zusammenspiel von § 261 StPO – dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung – und verfassungsrechtlichen Schranken, insbesondere den Grundrechten des Beschuldigten. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) gilt: Ein Beweisverwertungsverbot besteht nur ausnahmsweise, bei besonders gravierenden Verfahrensverstößen.

1. EncroChat Der Grundsatz: Verwertbarkeit trotz möglicher Rechtswidrigkeit

Bereits im Beschluss vom 2. März 2022 (5 StR 457/21) stellte der BGH klar: Die aus EncroChat gewonnenen Erkenntnisse sind verwertbar.

Diese Kernaussage wird vom BGH weiter begründet mit dem Hinweis, dass die Daten nicht im deutschen Geltungsbereich erhoben wurden, sondern durch französische Strafverfolgungsbehörden – und dass die Rechtmäßigkeit der Maßnahme nach französischem Recht zu beurteilen sei, nicht nach deutschem: Eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der ausländischen Ermittlungsmaßnahmen nach deutschem Recht ist nicht vorgesehen.

Diese sogenannte „Herkunftsrecht-These“ folgt dem Gedanken, dass die deutsche Justiz das Vorgehen fremder Staaten nicht nach eigenen Maßstäben kontrollieren kann – es sei denn, der Verstoß gegen rechtsstaatliche Prinzipien ist so gravierend, dass die Verwendung der Daten im Inland gegen den ordre public verstieße.

Diese Dogmatik führt dazu, dass die Schwelle für ein Beweisverwertungsverbot sehr hoch liegt. Der Schutz der Grundrechte des Beschuldigten tritt nicht durchgreifend zurück, aber er wird relativiert durch das legitime Interesse des Staates an effektiver Strafverfolgung.

2. Die „Widerspruchslösung“ des BGH – prozessuale Voraussetzung

Ein weiteres Hindernis für die Verteidigung ist die sogenannte Widerspruchslösung, entwickelt durch den BGH, u. a. in BGHSt 38, 214 ff. Demnach gilt:

Wenn der verteidigte Angeklagte ausdrücklich der Verwertung zugestimmt oder ihr in der Hauptverhandlung nicht widersprochen hat […], ist ein Beweisverwertungsverbot nicht mehr mit der Revision angreifbar. (BGHSt 38, 214, 219)

Die prozessuale Konsequenz: Selbst wenn ein Verwertungsverbot materiell vorliegt, kann es nur dann mit Erfolg gerügt werden, wenn die Verteidigung in der Hauptverhandlung rechtzeitig widersprochen hat – spätestens bis zum letzten Wort. Versäumt die Verteidigung diesen Widerspruch, ist die Rüge im Revisionsverfahren präkludiert.

Diese prozessuale Formstrenge wird von der Literatur – insbesondere im Kontext digitaler Beweismittel – zunehmend kritisiert, da sie das Gewicht der Grundrechte zugunsten prozessualer Formalitäten reduziert. Dennoch ist sie nach wie vor gefestigte höchstrichterliche Linie.

3. Verfassungsrechtlicher Maßstab: Schutz der Persönlichkeitsrechte

Die Einbeziehung verfassungsrechtlicher Maßstäbe – insbesondere der Artikel 10 GG (Fernmeldegeheimnis) und 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde) i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG (informationelle Selbstbestimmung) – wird in der Rechtsprechung des BGH durchaus anerkannt, aber regelmäßig hinter das Interesse an effektiver Strafverfolgung zurückgestellt. Der BGH betont dabei stets die Erforderlichkeit der Verhältnismäßigkeit:

Maßgeblich ist das Gewicht des Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht sowie der Grad der Persönlichkeitsrelevanz der erlangten Daten. Je schwerer die Tat, desto eher tritt das Persönlichkeitsrecht zurück. (BGH, Beschl. v. 2.3.2022 – 5 StR 457/21)

Hier folgt der BGH einer Güterabwägung, wie sie auch der EGMR in ständiger Rechtsprechung vorgenommen hat. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt klar:

Unrechtmäßig erhobene Beweise dürfen im Strafverfahren verwertet werden, solange das Verfahren insgesamt fair bleibt. (EGMR, Prade/Deutschland, Urt. v. 3.3.2016 – 71891/10)

Diese Rechtsprechung wird vom Bundesverfassungsgericht regelmäßig rezipiert und begrenzt das Verwertungsverbot auf Konstellationen, in denen die rechtsstaatliche Fairness insgesamt in Frage steht – etwa bei Täuschung, Zwang oder systematischen Gesetzesverstößen.

4. EncroChat Fazit: Hohe Schwelle – und hohe Anforderungen an die Verteidigung

In der Summe ergibt sich eine komplexe Dogmatik: Die Verwertung ausländisch erhobener Beweismittel ist grundsätzlich zulässig, selbst wenn Zweifel an ihrer Erhebung bestehen. Nur gravierende Verstöße gegen tragende Prinzipien des deutschen Verfahrensrechts oder der Menschenwürde können ein Verwertungsverbot begründen. Wer sich als Strafverteidiger darauf berufen will, muss:

  • den Widerspruch frühzeitig und präzise formulieren,

  • die Herkunft und Authentizität der Daten technisch und rechtlich angreifen,

  • und im Fall der Ablehnung der Beweisanträge die Verfahrensrüge klar vorbereiten.

EncroChat BGH verwertbar

IV. EncroChat Verteidigungsstrategie: Frühzeitig rügen – systematisch angreifen – strategisch steuern

In Verfahren mit EncroChat- oder SkyECC-Daten als Beweisgrundlage kommt der Verteidigung eine Schlüsselrolle zu: Nicht nur als juristischer Akteur in einem laufenden Verfahren, sondern als systemischer Kontrollmechanismus gegen exzessive Eingriffe in Grundrechte durch internationale Strafverfolgungsallianzen. Die Aufgabe des Strafverteidigers – oder, in besonders komplexen Konstellationen, des erfahrenen Staranwalts – besteht darin, sämtliche denkbaren Angriffspunkte frühzeitig zu identifizieren und prozessual wirksam umzusetzen.

1. Widerspruch gegen die Beweisverwertung in der Hauptverhandlung (§ 257 StPO)

Zentraler Schritt ist der Widerspruch gegen die Verwertung der EncroChat- oder SkyECC-Daten in der Hauptverhandlung. Der Bundesgerichtshof verlangt dies ausdrücklich: Die Frage der Verwertbarkeit eines Beweismittels muss – soweit nicht offenkundig – durch einen in der Hauptverhandlung zu Protokoll erklärten Widerspruch aufgeworfen werden, der im Einzelfall auf die geltend gemachten rechtlichen Bedenken Bezug nimmt. (BGH, Beschl. v. 6.2.2002 – 1 StR 580/01; BGHSt 47, 362)

Dieser Widerspruch ist nicht fakultativ, sondern Voraussetzung für eine spätere Verfahrensrüge. Wer es versäumt, zu widersprechen, verliert die Möglichkeit, sich auf ein etwaiges Beweisverwertungsverbot in der Revision zu berufen – selbst wenn dieses materiell-rechtlich vorliegt.

Die Erklärung des Widerspruchs sollte dabei juristisch fundiert erfolgen. Es genügt nicht, pauschal die Verwertung „aller Chatdaten“ abzulehnen. Vielmehr ist nachweisbar zu differenzieren, etwa: Welche Daten wurden wie erhoben? Wann erfolgte die Übermittlung? Gibt es Lücken in der Authentifizierung oder Probleme bei der Identitätsfeststellung?

2. Antrag auf gerichtliche Entscheidung zur Beweisverwertung (§ 238 Abs. 2 StPO)

Parallel zum Widerspruch ist ein förmlicher Antrag auf Entscheidung über die Verwertbarkeit der Daten zu stellen. Ziel ist ein Beschluss des Gerichts, gegen den ggf. eine Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 8 StPO erhoben werden kann. Denn eine unterlassene Entscheidung oder eine pauschale Ablehnung ohne Begründung kann zur Revisionsaufhebung führen, sofern dies gerügt wird.

Im Idealfall legt der Verteidiger dem Gericht eine differenzierte Argumentation vor:

  • Verstoß gegen Art. 10 GG (Fernmeldegeheimnis) durch ausländische Maßnahme ohne richterliche Anordnung,

  • keine rechtsstaatliche Kontrolle der Datenerhebung,

  • fehlende Transparenz der Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA),

  • Verletzung der sog. „chain of custody“ und damit der Authentizität der Daten.

3. Angriff auf die Europäische Ermittlungsanordnung (EEA)

Ein besonders ergiebiges Angriffsfeld liegt in der formalen und inhaltlichen Überprüfung der Europäischen Ermittlungsanordnung, mit der die Datenübermittlung nach Deutschland legitimiert wurde. Die EEA unterliegt – anders als herkömmliche Rechtshilfeersuchen – dem Regime der Richtlinie 2014/41/EU. Sie verlangt unter anderem:

  • eine konkrete Tatbeschreibung,

  • eine Katalogtat im Sinne von Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie,

  • eine richterliche oder staatsanwaltschaftliche Anordnung,

  • die Einhaltung von Fristen, Zuständigkeiten und formellen Anforderungen.

Fehlt eine dieser Voraussetzungen, kann das gesamte Übermittlungsverfahren rechtswidrig sein – mit der Folge eines möglichen Verwertungsverbots. Die Verteidigung muss daher Einsicht in die EEA und ihre Anhänge verlangen, diese mit den Anforderungen der Richtlinie abgleichen und – falls Mängel erkennbar sind – die Unverwertbarkeit geltend machen.

4. Identitätsangriff: Wer steckte hinter der Chat-ID?

Ein zentrales Argument der Verteidigung betrifft die personenbezogene Zuordnung der Chatnachrichten. Selbst wenn ein EncroChat-Account bestimmte Aussagen enthält, ist nicht automatisch bewiesen, dass der Angeklagte diesen Account auch benutzt hat. Hier lauern zahlreiche Verteidigungschancen:

  • Wurden mehrere Personen über dasselbe Gerät kommunizierend tätig?

  • War der Account durch Passwort gesichert – und wem war es zugänglich?

  • Gab es Hinweise auf Verkauf, Leihe oder Weitergabe des Geräts?

Die Rechtsprechung verlangt bei einer Verurteilung eine sichere Identifikation des Nutzers. Indizien wie Bilder, Spitznamen oder GPS-Daten reichen dafür nur aus, wenn sie nicht anders erklärbar sind. Selbst der BGH erkennt an: Indizien zur Identifikation des Nutzers sind im Einzelfall zu würdigen und können durch alternative Erklärungen erschüttert werden. (BGH, Beschl. v. 8.2.2022 – 6 StR 639/21)

5. EncroChat: Kalkulierter Verstoß gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit

Jeder Eingriff in Grundrechte – insbesondere bei der verdeckten Online-Durchsuchung – bedarf der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Der BGH betont, dass selbst Maßnahmen ausländischer Behörden einem Maßstab der Verhältnismäßigkeit unterzogen werden müssen, wenn ihre Ergebnisse in einem deutschen Strafprozess verwertet werden. Hier liegt die strategische Chance, den Beweiswert einzelner Nachrichten oder Bilder zu relativieren, insbesondere wenn:

  • sie nur entfernt mit dem konkreten Tatgeschehen zu tun haben,

  • sie private, nicht tatbezogene Inhalte betreffen,

  • sie aus Zeiträumen stammen, die außerhalb der Ermittlungsrelevanz liegen.

6. Strafzumessung: Reduktion bei Cannabis- oder Grenzdelikten

Selbst wenn eine Verwertung nicht verhindert werden kann, bietet sich bei BtM-Verfahren – insbesondere nach dem Inkrafttreten des Cannabisgesetzes (KCanG) – eine Strategie über die Strafzumessung. Denn vielfach handelt es sich bei Chatnachrichten um Taten, die nunmehr keine Verbrechen (§ 30a BtMG), sondern lediglich Vergehen (§ 34 KCanG) darstellen. Dies eröffnet:

  • mildere Strafrahmen (Freiheitsstrafe ab 3 Monaten statt 5 Jahren Mindeststrafe),

  • Bewährungsmöglichkeiten,

  • oder Einstellungen bei geringer Schuld (§ 153 StPO).

V. Rechtspolitischer Ausblick: Zwischen internationaler Sicherheit und nationaler Grundrechtskontrolle

Die juristische Auseinandersetzung um die Verwertbarkeit von EncroChat- und SkyECC-Daten ist mehr als eine bloße Beweisrechtsdebatte. Sie ist ein Kristallisationspunkt der Frage, wie sich die Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens im Zeitalter transnationaler Datenerhebungen behaupten können – und ob der deutsche Rechtsstaat bereit ist, seine rechtsstaatliche Identität gegenüber europäischen und globalen Sicherheitsinteressen zu verteidigen.

1. Strafprozessrecht unter europäischem Integrationsdruck

Die deutschen Strafgerichte stehen vor der Herausforderung, Beweismittel zu bewerten, die durch fremde Hoheitsträger nach ausländischem Recht und unter Umgehung deutscher Eingriffsstandards gewonnen wurden. Diese Beweismittel gelangen über Kooperationsinstrumente wie die Europäische Ermittlungsanordnung (EEA) in deutsche Strafverfahren – ohne dass ein deutsches Gericht jemals über die Rechtmäßigkeit der Maßnahme befunden hätte.

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkennt diese Form der Kooperation ausdrücklich. Der 5. Strafsenat betont: Es ist nicht Sache der deutschen Gerichte, über die Rechtmäßigkeit ausländischer Ermittlungsmaßnahmen zu befinden, sofern diese nicht offenkundig gegen tragende rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen. (BGH, Beschl. v. 2.3.2022 – 5 StR 457/21)

Dieser Ansatz wird mit dem sogenannten „Herkunftsrechtsprinzip“ begründet: Die Rechtmäßigkeit richte sich nach dem Recht des Staates, in dem die Maßnahme durchgeführt wurde – in diesem Fall Frankreich. Die Folge: Deutsche Gerichte nehmen Beweismittel in ihre Urteilsfindung auf, die nach deutschem Verfassungsrecht niemals hätten erhoben werden dürfen. Ein Beispiel: Die massenhafte Ausleitung privater Chatkommunikation ohne konkreten Tatverdacht – ein eklatanter Verstoß gegen Art. 10 GG.

2. Gefahr der Erosion rechtsstaatlicher Standards

Kritiker dieser Linie – darunter namhafte Strafrechtswissenschaftler und Grundrechtsverteidiger – warnen vor einem „Export“ rechtswidriger Maßnahmen nach Deutschland. Der deutsche Staat profitiere von Ermittlungen, die er selbst nicht durchführen dürfte, und unterlaufe damit die Schutzstandards seiner eigenen Verfassung. Dieses Phänomen wird als „Beweisrechtstourismus“ beschrieben: Ermittlungsmaßnahmen werden bewusst in Staaten ausgelagert, deren Standards niedriger liegen – um anschließend die Ergebnisse in deutschen Verfahren zu verwerten.

Die rechtsstaatliche Replik hierauf wäre ein konsequentes Beweisverwertungsverbot – nicht nur bei offenem Verfassungsverstoß, sondern bereits bei strukturell intransparenten Ermittlungslagen, in denen der Rechtsverstoß nicht ausgeschlossen werden kann. Diese Position wird gestützt durch Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG: Der Staat darf sich rechtsstaatswidrige Erkenntnisse nicht zueigen machen, selbst wenn sie aus dem Ausland stammen.

3. Digitalisierung als Herausforderung für das Ermittlungsrecht

Die EncroChat-Entscheidungen markieren eine Zäsur: Noch nie zuvor standen Ermittlern derart umfassende, lückenlose und belastbare Kommunikationsdaten aus kriminellen Netzwerken zur Verfügung. Die Daten sind qualitativ hochwertig, beinhalten Selfies, Drogenpreise, Lieferketten, GPS-Daten – und sie wirken belastender als viele klassische Beweismittel. Dies erzeugt einen gefährlichen Ermittlungseffekt: Einmal gesichert, erscheinen die Daten unanfechtbar, die Schuld evident, die Verurteilung nur eine Formsache.

Doch gerade in dieser scheinbaren Evidenz liegt die größte Gefahr. Denn Strafverfahren dürfen nicht zu Technokratieprozessen verkommen, in denen der Mensch hinter den Daten verschwindet und die Beweisführung zur Datenexegese mutiert. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 20 Abs. 3 GG) gilt auch gegenüber digitalen Indizien. Die Rolle der Verteidigung muss daher umso aktiver und strukturierter ausgestaltet werden, je technischer das Verfahren wird.

4. Verteidiger als Kontrollinstanz – nicht als „Bremse“

In diesem Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Effizienz und Fairness, kommt der Strafverteidigung eine verfassungsrechtliche Kontrollfunktion zu. Sie ist nicht nur Interessenvertreterin des Mandanten, sondern Garantin des rechtsstaatlichen Gleichgewichts. Wer EncroChat-Daten verwertet, ohne ihre Herkunft, ihre Authentizität, ihre Rechtsgrundlagen und ihre Verhältnismäßigkeit zu prüfen, verletzt nicht nur die Grundrechte des Angeklagten, sondern beschädigt die Integrität des gesamten Strafverfahrens.

Verteidigung bedeutet in dieser Konstellation:

  • die prozessuale Einhegung internationaler Ermittlungskooperationen,

  • die juristische Übersetzung digitaler Komplexität in justiziable Argumente,

  • und letztlich: den Schutz des Menschen vor der Omnipotenz der Maschine.

VI. FAQ – Häufige Fragen zu EncroChat, SkyECC und Beweisverwertungsverboten

Dieses FAQ richtet sich an Mandanten, Journalisten und juristisch Interessierte, die sich einen vertieften Überblick über die zentralen Begriffe, Strukturen und Verteidigungsstrategien im Zusammenhang mit EncroChat- und SkyECC-Verfahren verschaffen wollen.


Was ist EncroChat?

EncroChat war ein auf verschlüsselte Kommunikation spezialisiertes Messaging-System, das ausschließlich auf speziell präparierten Mobiltelefonen lief. Diese sogenannten „Krypto-Handys“ waren von vornherein für anonyme Nutzung konzipiert: ohne SIM-Kartenbindung, ohne IMEI-Erfassung und mit automatischer Datenlöschung bei unautorisierten Zugriffen. Die Nutzer konnten Nachrichten, Bilder und Dokumente über Ende-zu-Ende-verschlüsselte Kanäle austauschen.

Besonders perfide: Die Geräte verfügten über eine eigene „Paniktaste“, mit der sich alle Daten in Sekunden löschen ließen. EncroChat wurde vor allem im Bereich organisierter Kriminalität genutzt – insbesondere für Drogenhandel, Geldwäsche und Gewaltverbrechen. Im Jahr 2020 gelang es französischen Strafverfolgern im Rahmen einer verdeckten Operation („Opération Emma“) die Serverstruktur von EncroChat zu kompromittieren und eine Spähsoftware auf den Endgeräten auszuführen. Millionen Chatnachrichten wurden so abgefangen und gespeichert.


Was ist SkyECC?

SkyECC (Sky Encrypt Communication Company) ist ein weiterer Anbieter verschlüsselter Kommunikation, der ebenfalls auf speziell gehärteten Geräten läuft. Auch SkyECC stellte seinen Nutzern eine vollständig anonyme, verschlüsselte Plattform zur Verfügung – inklusive „Secure Wipe“, „Timed Message Deletion“ und blockierter Kamera/Mikrofon-Nutzung.

SkyECC wurde nach dem Verbot von EncroChat zunehmend zur Ausweichplattform für organisierte Tätergruppen. Auch hier gelang es französischen Behörden, in Zusammenarbeit mit Europol, die Kommunikationsserver zu kompromittieren. Die so gewonnenen Daten wurden – wie bei EncroChat – über Europäische Ermittlungsanordnungen an nationale Strafverfolger übermittelt.


Was ist eine Europäische Ermittlungsanordnung (EEA)?

Die Europäische Ermittlungsanordnung (EEA) ist ein EU-weites Rechtsinstrument zur grenzüberschreitenden Beweiserhebung in Strafverfahren. Sie ist geregelt in der Richtlinie 2014/41/EU und wurde in Deutschland durch das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) umgesetzt.

Mit einer EEA kann eine deutsche Staatsanwaltschaft oder ein Gericht Ermittlungsmaßnahmen im EU-Ausland anordnen – etwa Durchsuchungen, Zeugeneinvernahmen oder die Übermittlung von Telekommunikationsdaten. Im Fall EncroChat bezogen sich die EEA auf die Übermittlung der im Ausland erhobenen Kommunikationsdaten an deutsche Behörden.

Verteidiger prüfen bei der EEA insbesondere:

  • ob sie eine konkretisierte Tatbeschreibung enthält,

  • ob sie durch eine zuständige Stelle angeordnet wurde,

  • ob die Maßnahme verhältnismäßig und erforderlich war,

  • und ob die Beweismittel identifizierbar, vollständig und authentisch übermittelt wurden.


Was ist ein Beweisverwertungsverbot?

Ein Beweisverwertungsverbot liegt vor, wenn ein Beweismittel im Strafverfahren nicht verwendet werden darf, weil es unter Verstoß gegen Gesetze oder Grundrechte erhoben wurde. Es handelt sich um eine Folge schwerwiegender Verfahrensfehler, z. B.:

  • Verletzung des Richtervorbehalts (§ 105 StPO),

  • Verstoß gegen das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG),

  • Missachtung der Belehrungspflicht (§ 136 StPO),

  • unzulässige Zwangsmaßnahmen oder Täuschung (§ 136a StPO).

Die Rechtsprechung unterscheidet zwischen:

  • relativen Verwertungsverboten: Abwägung im Einzelfall, z. B. bei fehlender Belehrung,

  • absoluten Verwertungsverboten: z. B. Aussagen unter Folter, Verstöße gegen Menschenwürde.

In EncroChat-Verfahren wird diskutiert, ob die massenhafte Ausleitung privater Kommunikation ohne konkreten Tatverdacht und ohne richterliche Kontrolle ein solches Verwertungsverbot begründet. Der BGH verneint dies bislang.


Was ist die Widerspruchslösung nach BGH?

Die Widerspruchslösung ist eine durch den Bundesgerichtshof entwickelte prozessuale Bedingung: Wer sich auf ein Beweisverwertungsverbot berufen will, muss in der Hauptverhandlung rechtzeitig und ausdrücklich der Verwertung widersprechen.

Ohne rechtzeitigen Widerspruch ist die Verwertung nicht mit der Revision angreifbar. (BGHSt 38, 214; BGH, Beschl. v. 6.2.2002 – 1 StR 580/01)

Dies bedeutet: Versäumt die Verteidigung diesen Widerspruch, ist selbst ein klar rechtswidrig erlangter Beweis später nicht mehr angreifbar – ein oft unterschätzter Fallstrick für die Revision.


Was ist § 30a BtMG?

§ 30a Abs. 1 BtMG ist einer der schärfsten Tatbestände des Betäubungsmittelgesetzes. Er betrifft:

  • bandenmäßiges Handeltreiben mit BtM in nicht geringer Menge, oder

  • bewaffnetes Handeltreiben mit BtM in nicht geringer Menge.

Das gesetzliche Mindestmaß der Freiheitsstrafe beträgt fünf Jahre. Eine Bewährungsstrafe ist ausgeschlossen. In der Praxis ist der § 30a BtMG vor allem auf große Drogenlieferungen über EncroChat relevant, da hier regelmäßig Bandenstrukturen nachweisbar sind.


Was ist das Cannabisgesetz (KCanG)?

Das am 1. April 2024 in Kraft getretene Cannabisgesetz (KCanG) legalisiert in begrenztem Umfang den Besitz und Konsum von Cannabis. Infolgedessen wurde der Handel mit geringen Mengen herabgestuft – aus einem Verbrechenstatbestand (§ 29a BtMG) wurde ein Vergehen (§ 34 KCanG). Dies hat erhebliche Auswirkungen auf Strafzumessung und Verfahrensausgänge.

Die Verwertbarkeit von EncroChat-Daten bleibt unberührt vom KCanG, weil sich die Maßgeblichkeit nach der Rechtslage zum Zeitpunkt der Erhebung richtet. (BGH, Beschl. v. 30.1.2025 – 5 StR 528/24)


Was ist Chain of Custody?

„Chain of Custody“ beschreibt die lückenlose Dokumentation eines Beweismittels vom Zeitpunkt seiner Erhebung bis zur Verwendung im Verfahren. Ziel ist es sicherzustellen, dass das Beweismittel:

  • unverändert,

  • authentisch und

  • nachvollziehbar behandelt wurde.

Fehlt eine solche Nachweiskette – etwa weil die Rohdaten nicht vorgelegt werden oder keine Hash-Werte dokumentiert sind –, kann dies ein Argument gegen die Beweisverwertung sein.


Was ist der Unterschied zwischen SkyECC und EncroChat in der rechtlichen Bewertung?

Der BGH hat bislang keinen materiell-rechtlichen Unterschied zwischen den beiden Plattformen festgestellt. In beiden Fällen wurden die Daten:

  • im Ausland erhoben,

  • durch ausländische Behörden kontrolliert,

  • und über EEA nach Deutschland übermittelt.

In der Sache gelten daher dieselben Maßstäbe: Verwertbarkeit bei formaler Rechtmäßigkeit und Abwesenheit grober Verstöße gegen Verfahrens- oder Verfassungsrecht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Picture of Konstantin Grubwinkler
Konstantin Grubwinkler
Konstantin Grubwinkler zählt zu den bekanntesten Strafverteidigern Deutschlands. Er ist renommierter Fachanwalt für Strafrecht und bundesweit gefragter Spezialist für Betäubungsmittelstrafrecht und Konsumcannabisgesetz.

Teilen

Letzte Artikel
Handy beschlagnahmt – Voraussetzungen, Risiken und Strafverteidigung
EncroChat – Verteidigungsstrategie für Strafverteidiger
Klimakleben = Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
Steuerhinterziehung Strafe
Racial Profiling – Rechtslage und juristische Bewertung
§ 266a StGB – Strafverteidigung, Strategie, Definitionen